Wenn Drama zur Mahnung wird
Historisch gut informiert präsentierte sich jetzt der Kurs Darstellendes Spiel Q1 in seinem Stück Minus-Mensch. Den 24 Darsteller:innen gelang vor etwa 150 Zuschauenden die Auseinandersetzung mit einem dunklen Thema: Der Massenmord an Kranken durch Ärzte im Dritten Reich. Dazu bewegte sich das Ensemble zwischen sachorientierter Dokumentation und transformierender Inszenierung, zwischen historisierender Wiedergabe und künstlerischer Anverwandlung.
Statt Heilung Ermordung
Jannik eröffnet das Stück mit einer frechen Publikumsbeschimpfung und zeigt, dass das Gegenteil von Wertschätzung nahtlos in Gewalt übergeht. Die Verantwortung indessen lässt sich nicht konzentrieren. Alle müssen sie am Ende übernehmen, das zeigt die mit konsequent verteilten Rollen gesprochene Eröffnung. Christina präsentiert dicht und intensiv - hinter dem Maulbeerbaum-Katheder stehend - die menschenverachtende faschistische Ideologie der Einteilung von Menschen in lebenswert und lebensunwert. Vitali muss anschließend als Familienvater erkennen, dass die gutgemeinte Hilfe für seine psychisch kranke Frau dieser zum Verhängnis wird. Der Krankenwagen führt sie nicht der Heilung, sondern der Ermordung zu. Ece spielt das Zusammenbrechen und Aufstehen als Patientin in der menschenverachtenden Anstalt dann bis zur Unerträglichkeit aus, Rama verabreicht ihr unterdessen erbarmungslos eine Morphium-Spritze nach der anderen.
Traumatisierte Täter
Antek, der als reisender Gastechniker reihenweise Leichen hinterlässt, leidet darüber selbst zunehmend, entfremdet sich seiner Familie und bricht schließlich zusammen. Auch Gerret zeigte diese innere Betroffenheit über die durchorganisierten und zugleich barbarischen Vorgänge, übernimmt als Chronist seinen Teil der Verantwortung und zieht für sich bittere Konsequenzen.
Rollenwechsel
Tom ist mal als Arzt und Gegenspieler hochmütig und herablassend gegenüber dem "unwerten" Leben, mal als Patient selbst den Folgen am und im Gaswagen kontrastierend ausgesetzt. Eva zeigt als abgestumpfte Krankenschwester, wie ein Rädchen im Massenmordgetriebe funktioniert und bringt das Grauen durch ihr Entsetzen als neue Mitarbeiterin berührend auf den Punkt. Rama durchquert immer wieder den Krankensaal mit Tablett - als Engel und Versorgerin zynisch wirkungs- und teilnahmslos inmitten eines grauenhaften Vorgangs des Aushungerns und Sterbens.
Rädchen in der Tötungsapparatur
Karl gibt einen rücksichtslosen Schreibtischtäter, für den die Patienten nur auszuselektierende Nummern sind. An anderer Stelle fällt sein kaltes Spiel als Gräueltatenvertuscher auf, Frederik als sein dienstbeflissener Vordenker stellt seinen Scharfsinn ebenso in den Dienst des Bösen wie Alina, die als bitter-normal wirkende Mitläuferin an der mechanischen Schreibmaschine eines der Dokumente erstellt, aus dem man später das Unsägliche ableiten konnte.
Vernichtung
Jakob spielt das Leiden der Zwangsarbeit als Totengräber geduldig bis zur eigenen Erschießung aus. Christopher spielt den kritischen, ja beinahe reuigen Täter, der dann selbst hinterrücks ermordet wird. Nele gibt das verängstigte Kind Terese, das ebenfalls am Ende ermordet wird. Das staatliche Massenmordprogramm primitiv sozialdarwinistischer Prägung machte von Anfang an auch vor Kindern keinen Halt.
Übergriffe auf das Publikum
Das Publikum wurde von Ruby, Tom, Ece und anderen zum Zweck einer möglichen Selektion interviewt und gemustert. Ein beängstigender Vorgang, in dem die Zuschauer:innen dienstbeflissen und zuweilen ängstlich kooperierten, um nicht aufzufallen, um selbst davonzukommen. Man spürte: Hier gibt es nur Verlierer. Mutig scheute der Kurs sich nicht davor, an verschiedenen Stellen Deportation und Erschießung - trotz der Unspielbarkeit - auf die Bühne zu bringen.
Der von Manuel gespielte Maskenverweigerer führte sich durch seine Vergleiche angesichts der dargestellten Gräuel in einem späten Gegenwartsbezug selbst ad absurdum.
Eine an das Stück anschließende Schweigeminute sowie der Verzicht auf Applaus führte dem Publikum am Ende die Relevanz der doppelten Inszenierung vor Augen. In seiner Historizität und Aktualität wollte das Stück mehr sein als darstellende Kunst und zum Mahnmal für die Gegenwart werden. Die Spielleitung hatte Deni Velinovski.
Zahlreiche Zuschauende zeigten sich beeindruckt vom Aspektreichtum der Handlung und der ambitionierten Umsetzung einer schwierigen Thematik.
Text, Fotos: Wolff