Facetten der Abgründigkeit
18. März 2025
Der Abikurs Darstellendes Spiel unter der Leitung von Deni Velinovski bot dem Publikum in der zweiten Produktion der Corvi-Spielzeit 2025 eine Eigenproduktion über einen spektakulären Kriminalfall im Hannover des 19. Jahrhunderts: Die engagiert aufspielenden Darsteller:innen boten in "Warte, warte nur ein Weilchen" ein bestechendes Erklärungsmodell aus Armut, sozialer Kälte, bürgerlicher Blind- und Borniertheit, schwerster Kindheit und unfähiger Ordnungsmacht.
Die Geschichte des Massenmörders Fritz Haarmann ließ ein grausames, lautes, verstörendes blutiges Stück erwarten. Aber mitnichten. Das Ensemble war in Recherchen den vielfältigen „proximaten“ (Warum konnte das Morden gelingen?) und „ultimaten“ (Warum hat Haarmann überhaupt gemordet?) Ursachen für die Taten nachgegangen und hatte diese in selbstkomponierte Szenen verwandelt. Die Zusammenhänge wurden ineinander verschränkt mit ständigen Rollenwechseln dargestellt, was sich als Glücksfall für das Publikum erwies: Die Facetten der Abgründigkeit Haarmanns wurden so vom gesamten Ensemble als kollektive Annäherung an die schrecklichen und fatalen Zusammenhänge geleistet, die in der Hannoverschen Altstadt der Weimarer Republik zu mindestens 22 Toten (siehe Namen im Programmheft) geführt hatten.

Die lokale Presse wirft Polizei und Justiz zu recht Untätigkeit und Fahrlässigkeit vor. Wie war es möglich, dass so offensichtlich in Serie vollzogene Gräueltaten so lange unentdeckt bleiben konnten? Der Richter (resolut-unerbittlich: Jonathan Krähling) verwehrt sich gegen diese Vorwürfe und bringt im Verhör das ganze Maß der jahrelang unbehelligt vollzogenen Taten ans Licht.

Der Angeklagte schildert grotesk sachlich die Details seiner pragmatischen Zerlegungs- und Entsorgungshandlungen (eiskalt-kontrolliert: Pauline Paare; dämonisch-grausam: Mira Hampe, getrieben-verführend: Volkan Güney, wutentbrannt: Leonie Zehaczek).


Zur Hilfe kommen die Nachbarn. Zwar streitet man sich beim gemeinsamen Hausputz über die ambivalente Gestalt Haarmann, aber mehrheitlich kann man nicht glauben, dass der Kriminalassistent und so redlich wirkende Haarmann etwas Böses im Schilde führen könne. Im Gegenteil, die Nachbarn biedern sich teilweise an und nehmen Gefälligkeiten dankend an. Dabei verharmlosen sie die verdächtigen nächtlichen Klopfgeräusche, die durch die dünnen Wände aus der Mansardenwohnung dringen. Der Täter baut eine bürgerlich-amtliche Fassade auf, die kaum jemand hinterfragt, und kann so schalten und walten, wie er will.
Auch die Ordnungshüter nehmen dem Massenmörder die Fassade ab, gestatten ihm Zugang zum Bahnhof und überlassen ihm das Feld, auf dem er sich das Vertrauen der in Armut frierenden jungen Männer erschleichen kann. Die Ordnungshüter erkennen - trotz nachdenklich machender Indizien - nicht, dass sie vorurteilsbehaftet gegen die Falschen hart vorgehen und sie so ans Messer liefern.
Ausführlich, nämlich in zwei Szenen kommen die Hinterbliebenen der jungen Opfer zur Geltung. Damit wird der Eindruck des unfassbaren Verlusts von Menschenleben nochmals deutlich gemacht. Denn bereits im Spiel der jungen Opfer an der Schwelle zum Tod war der Wert dieser von der Gesellschaft allein gelassenen Menschen vom Kurs berührend in den Blick genommen worden. Vor Gericht kommt es zu einer Konfrontation mit den Hinterbliebenden (echte Tränen: Pauline Ude).

Außerdem konnten - historisch belegt - viele Opfer nur anhand der Kleidung identifiziert werden, die man in Haarmanns Wohnung fand. Der Kurs stellt das Erkennen der Kleidung und damit des Schicksals der verlorenen Menschen ebenfalls dar.

Der selbstbewusst auftretenden Medizin erschließt sich langsam, dass die Wurzeln des grausamen Verhaltens Haarmanns in seiner von Missbrauch und Gewalt geprägten Kindheit liegt. Hinter Glas - klaustrophobisch ausweglos und zugleich wie im Schaukasten - präsentiert der Kurs geschickt synchronisiert und abstrahiert diese für Haarmann selbst schrecklichen Erfahrungen. Vielleicht einer der intensivsten Momente an diesem Theaterabend: Wenn der Täter zum Opfer wird, greifen keine einfachen Antworten.

Dem Prüfungskurs ist mit seiner 2025er-Produktion etwas ganz Besonderes geglückt. Dazu haben die Darsteller:innen geschlossen im Ensemble agiert. Neben den namentlich Genannten haben zum Erfolg die Einzelleistungen aller anderen ebenso beigetragen. Herzlichen Glückwunsch an Kurs und Leitung!

Hier gibt es alle Bilder der Aufführung vom 17. März 2025: