Long Corvid 21 - die Abirede

Liebe Abiturientinnen und Abiturienten, liebe Eltern, liebes Kollegium,
liebe Freundinnen und Freunde des Corvinianum!
 

„Corvid 21 – Ab(i) in Quarantäne“

 
Es ist nun wirklich keine große Überraschung, dass sich unser 21er-Abijahrgang ein coronabezogenes Motto gegeben hat. Nicht nur Ihr Abitur war von der Pandemie geprägt, liebe Abiturientinnen und Abiturienten, sondern fast Ihre gesamte Kursstufenzeit. Zusammen mit Ihren Familien – und auch mit uns Lehrerinnen und Lehrern – haben Sie Wochen und Monate durchlebt, für die der Begriff „Ausnahmezustand“ noch eine nette Umschreibung ist.
 
Und so finde ich persönlich das Bild vom Krankenhaus unmittelbar einleuchtend, wie Sie es mit Stationsberichten, Ärzte-Rankings und Anamnesebögen in Ihrer Krankenakte bzw. Abi-Zeitung beschrieben haben. In den vergangenen Monaten mit den wechselnden Szenarien, immer neuen Verordnungen und unzähligen nicht bestandenen Echotests waren auch wir Lehrkräfte oft reif für eine Heilanstalt.
 
Aber glücklicherweise dürfen wir uns nun wieder in natura versammeln – und ich kann diese Worte direkt und ohne Headset an Sie persönlich richten.
 
Aber wer oder was ist Corvid 21? Etwa ein neues Virus? Eine rätselhafte Krankheit? Ein heiß begehrter Impfstoff? Das hat sich mir so nicht erschlossen... Natürlich hat es etwas mit Ihrem Jahrgang zu tun, aber es sollte noch mehr dahinterstecken.
 
Für diesen Auftritt hier musste ich also herausfinden, was Corvid 21 wirklich bedeutet... Aber wie sollte ich das anstellen? Wen könnte man fragen? Sie, liebe Abiturienten? Ihre Eltern? Ihre nun ehemaligen Lehrerinnen? Herrn Dr. Drosten? Und würde ich bei so vielen verschiedenen Perspektiven jemals das komplette Bild erhalten? Das bekam ich ganz anders, liebe Abiturientinnen und Abiturienten!
 
Es war vor einigen Wochen – gerade hatte ich die halb-korrigierten Abiklausuren beiseite gelegt und öffnete schon einmal den Selbsttest-Karton für den nächsten Schultag. Doch in dieser Packung war neben der Testanleitung ein weiteres Blättchen. „Noch mehr Papiermüll“, dachte ich, da sah ich, dass es sich um einen Zettel mit einer Internetadresse handelte. Daneben standen die Worte:„Corvid 21 – Exklusiv“.
 
Das klang wirklich interessant – also schnappte ich mir mein Notebook und gab die angegebene URL ein. Natürlich war die Adresse vertrauenswürdig – schließlich hatte mir die Schulleitung den Testkarton ins Fach legen lassen.
 
Ich landete auf einem Schulserver, wo sich sogleich ein BBB-Fenster öffnete. Hier begrüßte mich – mit krächzender Stimme – ein großer, animierter Rabe, der mir irgendwoher bekannt vorkam. Allerdings hatte er ein Stethoskop um den Hals und einen Arztspiegel auf seinem Kopf. Er schaukelte rhythmisch hin und her und rief: „Hallo und willkommen in der digitalen Sprechstunde! Alles rund um Corvid 21!“
 
„Hallo lieber Rabe“, sagte ich. „Wer oder was ist Corvid 21?“
Der Vogel reagierte nicht. Stattdessen trällerte er weiter „Hallo und willkommen in der digitalen Sprechstunde!“
„Lieber Rabe!“, wiederholte ich. „Wer...“
Ich hatte mein Mikro noch nicht eingeschaltet. ...Danach klappte es:
„Hallo, Stechmann!“, krächzte der Rabe. „Schön, dass du da bist! Willst du ALLES über Corvid 21 wissen?“
Eine Umfrage poppte auf (Ja – Nein – Enthaltung). Zügig klickte ich auf „Ja“. Allerdings war ich der einzige Teilnehmer.
„Und da haben wir einhundert Prozent Zustimmung!“, rief der Vogel mit Begeisterung. „Jetzt gibt’s alles rund um Corvid 21!“
Er bewegte seine virtuellen Flügel auf und ab, so als ob er eine passende Erzähl-Position anflog. Dann holte er tief Luft und begann:
 
Vor langer, langer Zeit war es, als unsere neuen Corvid-Patienten ins Krankenhaus eingeliefert wurden. Der Klinikdirektor persönlich, Chefarzt Dr. Christopher Dongomery, begrüßte mit aufmunternden Worten die Neulinge im Krankenhaus. Dongomery war bekannt für seine fröhliche Grundstimmung – und dass er sich durch nichts und niemanden aus der Ruhe bringen ließ. Diese Eigenschaft würde ihm im folgenden Verlauf noch sehr zugute kommen. Hinter Dongomery stand ein motiviertes Team von Ärzten und Oberärzten – die einen mit langer Praxis-Erfahrung, die anderen frisch von der Uni – eine bunte Mischung, um die Neulinge optimal zu therapieren.
 
Die neuen Patienten wurden aufgenommen und zur besseren Übersicht auf verschiedene Stationen verteilt. Und kaum waren sie angekommen, begannen sie ihre ganz eigene Bewegungstherapie und tobten wild durch die Krankenhausflure... Da musste doch gelegentlich Frau Dr. Mary Steel für Ordnung sorgen, eine resolute Oberärztin, vor der die Neulinge einen gehörigen Respekt hatten.
 
Aber wer betreut denn diese vielen Patienten? fragte ich.
Die Care-Center, sagte der Rabe. Das sind kleine Familienbetriebe, die solche neuen Schützlinge hervorbringen und diese über die gesamte Behandlungszeit beherbergen. Sie überweisen ein, zwei oder drei Neulinge in unser Krankenhaus, und zunächst ist überhaupt nicht klar, ob diese erfolgreich behandelt werden können.
Und damit verdienen die Care-Center Geld? fragte ich.
Oh nein, erwiderte der Rabe. In der Regel zahlen sie bei der Betreuung ihrer Schützlinge kräftig drauf. Aber dennoch versorgen sie sie mit allem, was diese zum Leben brauchen, dazu mit moralischer Unterstützung und sogar mit Nestwärme.
Und sie ertragen geduldig alle Therapie-Rückschläge und die typischen Nebenwirkungen, die bei jugendlichen Patienten immer mal wieder auftreten.
Erstaunlich, sagte ich. Diese Care-Center verdienen wirklich Hochachtung...
So ist es, sagte der Rabe, setzte seinen Status auf „Applaus“ und fügte hinzu:
 
Liebe Care-Center, eurem Einsatz und eurer Zuwendung verdanken wir das Wichtigste: unsere erfolgreich therapierten Probanden. Euer geschicktes und umsichtiges Management – auch durch Krisen hindurch – wird nun belohnt: Eure Schützlinge sind genesen und werden der Welt noch viel Freude bereiten! Der Rabe blickte aus dem Bildschirm weit in die Ferne, so als ob er tatsächlich in die Zukunft schauen konnte.
 
Erzähl weiter! bat ich. Und der Rabe berichtete:
Nun hatten sich unsere Patienten gerade in der Klinik eingelebt – da entschied die Gesundheitspolitik, die bisherige Therapie grundlegend zu verändern: Sie wurde um ein Jahr verlängert. Anders als die Patienten zuvor sollten unsere Schützlinge neun statt acht Jahre in der Klinik verbringen. Aus Corvid wurde Long-Corvid! Umso erstaunlicher war es, dass noch keine Medikamente oder Behandlungspläne für Long-Corvid existierten – und unsere Patienten irgendwie mit dem alten Material klarkommen mussten.
 
Ich wandte ein: Aber das klingt ja nach einem riesengroßen Versuch, den man mit unseren Probanden durchgeführt hat...
Ganz genau, erwiderte der Rabe. Und dieser Versuch war durchaus erfolgreich:
Von nun an werden alle nachfolgenden Patienten auf diese Weise therapiert – inzwischen auch mit den passenden Medikamenten.
 
Und nun, wo unsere Patienten noch länger bleiben, muss ich auch vom wichtigsten Ort im Krankenhaus berichten.
Wichtigster Ort? Du meinst wohl den OP-Saal... sagte ich.
Neinnein! – Dann vielleicht Dongomerys Büro?
Auch nicht! – Was denn dann? –
 
Es ist die Anmeldung! sprach der Rabe.
Die Anmeldung?
Natürlich! Hier findet ja nicht nur die Aufnahme in die Klinik statt. An der Anmeldung werden die Dienstpläne gedruckt, es ist die Poststelle, das Testzentrum, die Kommunikationszentrale. Von hier werden Ärzte und Pfleger instruiert, hier gibt es Trost und Hilfe für die kleinen und für die großen Patienten im Krankenhaus.
Hier laufen alle Fäden zusammen – bei den drei freundlichen Damen von der Anmeldung...
Ich war beeindruckt.
Aber wie können denn drei Damen diese zahlreichen, völlig unterschiedlichen Aufgaben erledigen? fragte ich.
Es ist ein Wunder, antwortete der Rabe. Man sagt, dass sie magische Kräfte besitzen, um den ganzen Tag die vielen, vielen Wünsche der Ärzte und Patienten zu erfüllen. Ohne ihre zauberhaften Fähigkeiten könnte Dr. Dongomery seine Klinik sofort zumachen, sofort!
 
Der Rabe hüpfte auf dem Bildschirm hin und her. Und dabei berichtete er weiter:
Die Jahre vergingen, und die Patienten machten gute Fortschritte. Neue Freundschaften entstanden. Manche verließen die Klinik, um sich anderswo behandeln zu lassen, andere kamen neu hinzu und verstärkten die Mannschaft. Einige gingen in fremde Länder und kehrten dann mit einer zweiten Heimat in ihre erste zurück. Überhaupt lernten sich unsere Patienten untereinander – und auch sich selbst – immer besser kennen. Und manche Freundschaften hielten über die ganze lange Zeit bis zum heutigen Tag. Und selbstverständlich wurden unsere Probanden immer wieder getestet, mündlich und schriftlich, bis zu dreimal in einer Woche.
 
Der virtuelle Rabe pickte dreimal gegen den Bildschirm.
Doch dann geschah ein grundlegender Wandel: Die bisherigen Stationen wurden aufgelöst – und es entstanden besondere Therapiekurse, passend zu den persönlichen Fähigkeiten und Neigungen unserer Probanden, die nun zwei Jahre Intensiv-Therapie vor sich hatten. Koordiniert wurde der Umbau von dem Mann, dem alle Patienten vertrauen: dem sympathischen Oberarzt Dr. Henry Browns.
Er machte unseren Schützlingen den Weg frei für das Intensiv-Training – und für ihr oberstes Ziel, die große Untersuchung.
 
Große Untersuchung? Was ist denn das? fragte ich.
Ganz einfach, sagte der Rabe. Am Ende der langen Behandlung im Krankenhaus steht eine große Untersuchung, nach welcher wir unsere Probanden mit dem begehrten Gesundheitszeugnis entlassen – wenn alles gut läuft.
Nur eine Untersuchung? fragte ich. Was ist denn das für eine seltsame Klinik?
Oh, antwortete der Rabe, es gibt viele solcher Kliniken im Land – und der Ablauf der großen Untersuchung wird für alle Krankenhäuser zentral vorgegeben!
Unsere Probanden mussten sich nun für die einzelnen Fachbereiche entscheiden,
in welchen sie sich untersuchen lassen wollten.
 
Und schau – da läuft schon die Intensiv-Therapie, welche immer wieder mentale und physische Höchstleistungen von unseren Patienten fordert. Und während dieser Therapie kommt es vor, dass sich unsere Probanden ärgern – über die Neulinge im Krankenhaus, die bei ihrer Bewegungstherapie wild durch die Flure toben.
Nanu! sagte ich. Waren sie nicht eben noch...?
Ja, sprach der Rabe. Unsere Patienten sind inzwischen „groß“ geworden...
Und er setzte seinen Status auf „Daumen hoch“...
 
Doch dann kam die wirklich entscheidende Herausforderung: Ein kleines Virus! Ausgerechnet in der Pandemie mussten landesweit die Krankenhäuser schließen. Den Ärzten wurden ihre Patienten weggenommen – und die Care-Center mussten sich plötzlich um alles selber kümmern.
Oh nein! sagte ich. Und die große Untersuchung?
Haaa, antwortete der Rabe. Hier haben die Doktoren Dongomery, Browns und ihr ganzes Orga-Team sämtliche Register ihres Könnens gezogen! Die Intensiv-Therapie wurde nie unterbrochen! Unsere Patientinnen und Patienten konnten weiter behandelt werden – wenn auch eine Weile nur mit Ferndiagnosen. Und entgegen allen anderslautenden Prognosen durfte die große Untersuchung stattfinden – wenn auch an ungewohnten Orten mit merkwürdigen Ritualen.
 
Ich überlegte:
Oh, oh – unser Corvid 21-Jahrgang hat ja mal richtig Pech gehabt: Erst als Long-Corvid-Versuchskaninchen im Testlabor der Gesundheitspolitik... und dann auch noch Abitur mitten in der Pandemie...
Nein – die haben total Glück gehabt! krähte der Rabe.
Wären sie – ohne Long-Corvid – ein Jahr früher fertig geworden, hätte ihnen das Virus alles lahmgelegt: Auslandsjahr, Berufsausbildung, Studienstart – alles weg! So waren sie einfach noch im Krankenhaus, und hier konnte ihnen nichts passieren.
Auf diese Weise konnte man es natürlich auch sehen.
 
Und hier fiel mir meine Frage vom Anfang wieder ein.
Lieber Rabe, wer oder was ist Corvid 21? Wofür steht dieses Motto?
Ach Stechmann! krähte der Rabe. Hast du das noch nicht bemerkt? Die allgegenwärtige Pandemie, von der wir alle den Schnabel gestrichen voll haben, hat dieses Abitur und diesen Jahrgang zu etwas Einzigartigem gemacht.
 
Corvid 21 bedeutet: Ganz unterschiedliche Menschen haben in einer schwierigen, langanhaltenden Krisensituation erfolgreich zusammengearbeitet: Ärztinnen und Ärzte, Patientinnen und Patienten, ihre Familien, die Klinikleitung. Sie alle waren auf eine Weise eingeschränkt, wie es die wenigsten von ihnen schon einmal erlebt hatten.
 
Aber jede Person hat ihre besten Eigenschaften eingebracht: Einfallsreichtum, Organisationstalent, Hilfsbereitschaft, Humor. Die Fähigkeit, anderen etwas zu erklären, das Talent, andere aufzumuntern oder zu trösten. Den frohen Mut, die gegebene Situation zu verbessern, und die Gelassenheit, unausweichliche Dinge hinzunehmen.
 
Und so sind alle Patientinnen und Patienten trotz der widrigen Umstände erfolgreich behandelt worden und vollständig genesen: Sie können fröhlich ihr Gesundheitszeugnis in Empfang nehmen, weil alle Menschen rund um das Krankenhaus ihren Beitrag geleistet haben – und viele auch noch deutlich mehr. Dafür steht Corvid 21! Alle, die daran beteiligt waren, werden es nicht mehr vergessen.
 
Liebe Patientinnen und Patienten, ergänzte der Rabe, eure Genesung bedeutet nun den Abschied vom Krankenhaus – ein Abschied, der uns nicht leichtfällt. In neun Long-Corvid-Jahren seid ihr bei uns zu vielseitigen Persönlichkeiten geworden, jeder und jede von euch mit einzigartigen Eigenschaften und Fähigkeiten, Stärken und Schwächen. Ihr habt unsere Klinik entscheidend geprägt. Habt Nachsicht mit euren Ärzten, wenn sie nicht alle eure Symptome angemessen behandeln konnten. Vergesst nicht, was eure Care-Center für euch getan haben – sie werden euch sicherlich auch in Zukunft tatkräftig unterstützen.
 
Aber von nun an seid ihr als Gesunde selbst verantwortlich – nicht nur für einzelne Therapieschritte, sondern für das gesamte Programm eures hoffentlich gesunden Lebens. Stellt euch den Herausforderungen, die auf euch warten – wagt euch an neue Aufgaben, auch wenn diese zunächst sehr schwierig aussehen. Bewahrt euch eure Unabhängigkeit – als Gesunde müsst ihr nicht auf jeden selbsternannten Arzt hören. Verliert nicht den Mut, wenn eine Therapie mal nicht so wirkt, wie ihr euch das vorgestellt habt. Und: Das Wichtigste ist und bleibt Gesundheit! Wir werden eure vielfältigen Charaktere sehr vermissen – lebt wohl!
 
Und damit ist die Geschichte von Corvid 21 zu Ende. Der Rabe verneigte sich. Dann verschwand er, und es kam die Meldung: Die Konferenz wurde beendet.
 
Schade, ich hätte so gern noch erfahren, was die genesenen Probanden in ihrem neuen Leben außerhalb der Klinik vorhaben. Gerüchteweise sollte ihre neue Freiheit mit einer Luftballonaktion bei ihrer Abschlussfeier beginnen. Aber bei meinen erneuten Einwählversuchen zur digitalen Sprechstunde erschien immer nur: Die Seite existiert nicht.
 
Wenigstens kannte ich nun die wahren Hintergründe von Corvid 21...
 
Und so habe ich für Sie, verehrte Zuhörerinnen und Zuhörer, all das vorgetragen, was der weise Rabe gesagt hatte.
Er hat zwar hier und da ein wenig übertrieben – aber in den allermeisten Punkten kann ich mich ihm nur anschließen.
 
Liebe Abiturientinnen und Abiturienten, jetzt bleibt mir nur noch, Ihnen alles erdenklich Gute für Ihre Zukunft zu wünschen. Behalten Sie uns in guter Erinnerung und schauen Sie – als Besucher – gern mal wieder im Corvi-Krankenhaus vorbei. Sie sind ja jetzt immun gegen Schule. Wir werden Sie dann herzlich begrüßen – es sei denn, Sie sind mit einer neuen Mutante infiziert. Dann gilt natürlich: Ab in Quarantäne!
 
Vielen Dank!
 
Text: Jan Stechmann

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