Goethe würde uns wohl sagen: Bleibt zu Hause!

Iphigenie auf Tauris – ein Drama ohne Gegenwartsanspruch?

 

Goethes Iphigenie auf Tauris ist über 200 Jahre alt und soll laut dem Niedersächsischen Bildungsministerium Lösungsvorschläge für unsere heutigen Probleme geben. Wie soll das möglich sein, wenn wissenschaftliche Untersuchungen innerhalb von Jahrzehnten technische Errungenschaften unterschiedlich bewerten? Deshalb stellt sich die Frage: Ist die Lektüre „Iphigenie auf Tauris“ von Johann Wolfgang von Goethe im Unterricht heute noch zeitgemäß?

Unser Deutsch-Leistungskurs der Qualifikationsphase 2, in welchem auch ich mich befinde, hat sich tiefgreifend mit den Kernaussagen der Lektüre auseinandergesetzt und dafür unter anderem die Aufführung zu „Iphigenie auf Taurus“ im „Deutschen Theater“ Göttingen besucht. Weiterführend haben wir uns mit dem Weimarer Kunstprogramm auseinandergesetzt, welches ähnliche Werte vertritt.

Im Folgenden werde ich nach einer kurzen Einführung darauf eingehen, wie der Bildungsauftrag der Schulen gestaltet ist, woraus sich die Relevanz des Dramas für die Schulbildung ergibt. Daraufhin werde ich mithilfe der Rolle des Theaters im Kulturbetrieb beleuchten, inwiefern das Drama Wege zur gesamtgesellschaftlichen Problembewältigung aufzeigt. Zusammenfassend gehe ich auf das Potenzial des Stückes „Iphigenie auf Tauris“ für die soziale Entwicklung der Deutschen Gesellschaft des 21. Jahrhunderts ein und berücksichtige dabei die Schulbildung und die Möglichkeit gesamtgesellschaftliche Probleme durch dieses Drama zu lösen.

 

Zu Beginn eine kurze Zusammenfassung des Dramas auf übergeordneter Ebene: Goethe stellt in seinem Drama exemplarisch dar, dass der Mensch selbstbestimmt und wahrhaftig handeln kann, sodass eine humanistische Gesellschaft entsteht, in der alle Menschen gleichrangig und selbstbestimmt durch Selbstbeschränkung und gegenseitiges Vertrauen agieren können.

 

Wie bereits angesprochen, verfolgt die Schule einen Bildungsauftrag, der für Niedersachsen im Niedersächsischen Schulgesetz festgelegt ist. Dieser soll die Grundlagen für eine humane und gerechte Gesellschaft schaffen. In § 2 ist den Schulen auferlegt, auf den Grundlagen des europäischen Humanismus die Persönlichkeit der Schülerinnen und Schüler weiterzuentwickeln. Neben Goethe gibt es viele weitere wichtige Persönlichkeiten der humanistischen Bewegung. So zum Beispiel Friedrich Schiller. Dieser ging davon aus, dass alle Menschen gebildet werden sollten mithilfe von Geschichte und Philosophie, wodurch sie aufgeklärt werden würden. In Deutschland findet sich dieser Ansatz wieder, indem alle Kinder und Jugendliche bis zu einem gewissen Alter schulpflichtig sind. Schiller geht weiterführend davon aus, dass diese Aufklärung dazu führt, dass die Menschen mündig werden. Durch diese Mündigkeit könne man wiederum erst mitbestimmen, da man eigenständige Entscheidungen treffen kann. Nach diesem Ansatz spiegelt das Schulgesetz humanistische Ideale wider, welches uns ebenfalls zu eigenständigen Handlungen erziehen möchte und somit die Möglichkeit für verantwortliches Handeln bietet.

Das Schulgesetz betont weiterhin die Relevanz für die Schüler*innen, „Konflikte vernunftgemäß zu lösen, aber auch Konflikte zu ertragen“. Dafür bietet Goethe in „Iphigenie“ einen Lösungsansatz, indem alle Probleme aufgrund von Kommunikation gelöst werden konnten. Ein Beispiel dafür ist, dass Thoas (der König einer Insel) und Orest (der Bruder Iphigenies) einen Kampf um Leben und Tod führen wollen, um über die Abreise von Orest, Iphigenie (welche auf der Insel festgehalten wird) und den Gefährten zu bestimmen. Iphigenie hingegen tritt in einen friedlichen Diskurs mit Thoas und überzeugt ihn schließlich, sie und die anderen wohlwollend gehen zu lassen.

Entgegen der Annahme, dass der Humanismus Antworten auf alle gesellschaftlichen Probleme hat, nennt das niedersächsische Schulgesetz weitere Grundlagen für die Erziehung der Persönlichkeit der Schülerinnen und Schüler. So zum Beispiel die „Grundlagen des Christentums […] und der Idee der liberalen, demokratischen und sozialen Freiheitsbewegung“.

Insgesamt stellt das Schulgesetz zwar in Teilen Grundlagen des Humanismus dar, allerdings fehlen anscheinend Bildungsideale innerhalb des Humanismus, die in anderen Bereichen zu finden sind. Iphigenie auf Tauris ist somit ein Drama mit Gegenwartsanspruch, allerdings lässt es sich nicht auf alle Probleme anwenden.

 

Doch welche Rolle hat das Theater und die damit teilweise verbundenen Ideale der Weimarer Kunstepoche im Kulturbetrieb? Innerhalb des Leistungskurses haben wir über diese Frage diskutiert. Die Hauptmerkmale sind für uns, Interesse für diese Ideale zu schaffen und darauf aufbauend zur kritischen Betrachtung dieser anzuregen. Unser Theaterbesuch ergab für mich neue Einblicke, indem die Schauspieler untereinander die Rollen wechselten. Dies verdeutlichte für mich den Ansatz, dass alle Menschen aufgrund ihrer inneren Gedanken und Empfindungen unter Vernachlässigung ihres Erscheinungsbildes humanistisch handeln können.

Diese Möglichkeit, dass Theater neue Ansätze bieten kann, wird durch Zitate in „Schauspieler diskutieren über „Iphigenie auf Tauris““, einer Dokumentation, dargestellt. Beispielsweise war es den Schauspielern wichtig darzustellen, dass „jede Person im Stück […] gleichermaßen gefährdet [ist] inhuman zu handeln“. Außerdem sehen sie in dem Theaterstück „eine Möglichkeit, sich mit dieser aktuellen Wirklichkeit auseinanderzusetzen“. Theater stellt demnach die Möglichkeit der politischen Partizipation zur Verfügung.

Doch inwiefern ist dies für die Gesellschaft relevant? Eine Statistik des Statistischen Bundesamts aus dem Jahr 2017 stellt laut „Der Standard“, einer überregionalen österreichischen Tageszeitung, die öffentlichen Kulturausgaben in Deutschland dar. Die Gesamtausgaben sind demnach von 1995 bis 2013 um ca. 2,5 Milliarden Euro stetig gestiegen. Von den 2013 9,9 Milliarden Euro wurden rund 35 % an Theater und Musik verteilt. Unter der Annahme, dass die Gesamtausgaben innerhalb der letzten sieben Jahre weiterhin angestiegen sind, wäre davon auszugehen, dass eine wachsende Relevanz von Kulturangeboten für die Bevölkerung in Deutschland zu verzeichnen sein müsste. Laut der Statistik „Bevölkerung in Deutschland nach Häufigkeit des Besuchs von kulturellen Veranstaltungen und Museen in der Freizeit von 2016 bis 2019“ von Statista ist die Anzahl der Personen, die mindestens einmal monatlich solche Veranstaltungen besuchen, ca. auf einem Niveau geblieben mit rund 8 Millionen Menschen. Dagegen stehen rund 61 Millionen Menschen, die selten oder nie eine kulturelle Veranstaltung besuchen.

Insgesamt hat Theater einen Einfluss, besonders durch die Möglichkeit, neue Einblicke zu geben, allerdings werden nur wenig Menschen durch das Theater erreicht. Dass Menschen erreicht werden, spricht für einen Gegenwartsanspruch von „Iphigenie auf Tauris“, allerdings scheint dieser nur für einen kleinen Teil der Bevölkerung relevant zu sein.

 

Abschließend stellt sich die Frage: Welches Potenzial bietet das Stück „Iphigenie auf Tauris“ für die soziale Entwicklung der deutschen Gesellschaft des 21. Jahrhunderts? Für die Beantwortung dieser Frage kann man die zur Weimarer Klassik entfaltete Wirkung betrachten. Georg Melchior Kraus hat damals in einem Aquarell seine Wahrnehmung des Weimarer Hofes dargestellt. Da er als Künstler eine enge Verbindung zur Herzoginmutter hatte, ist davon auszugehen, dass die Darstellung geschönt ist. Das Aquarell zeigt einen Kreis an Menschen, der zusammen geistigen und künstlerischen Tätigkeiten nachgeht. Das Bild zeigt eine grundsätzliche harmonische Stimmung. Keiner sticht besonders stark hervor, nur die Herzoginmutter ein wenig. Laut Georg Melchior Kraus sind die Menschen dort gleichrangig. Allerdings stellt er nur gebildete Menschen dar und eben nicht, wie andere Menschen von diesen gebildet werden. Bereits damals scheint es einen Unterschied zwischen dem Anspruch der gesamtgesellschaftlichen Bildung und der Wirklichkeit gegeben zu haben.

Herbert Rösch  stellt in seinem Text „Das Streben nach Humanität“ als höchstes Ziel der Humanität das Streben nach einem sinnvollen Leben „und zwar mit Hilfe von Bildung und Kunst“ dar. Diese Mittel sind uns auch wiederkehrend im Unterricht begegnet. Wie bereits unter dem Punkt „Bildungsauftrag der Schule“ ausgeführt, geht Schiller davon aus, dass Bildung zu gesellschaftlicher Mitbestimmung führt. Dies ist noch für unsere heutige Gesellschaft von Relevanz. Außerdem geht Schiller davon aus, dass die „Beherrschung der Triebe durch die moralische Kraft“, welche durch Bildung entsteht, zur Erlangung der „Würde“ führt. Herbert Rösch geht davon aus, dass „die Anerkennung des Mitmenschen in seinem Anderssein sowie die Achtung vor anderen Nationen und Kulturen“ wichtiger Bestand der Weimarer Klassik sei. Dem gegenüber steht eine Kurzgeschichte von Heinrich Böll. In dieser stellt er dar, wie die humanistischen Ideale von der NS-Ideologie für menschenverachtende Taten missbraucht wurden. So konnte beispielsweise das Schönheitsideal für Rassismus und damit für die Legitimation von Konzentrationslagern genutzt werden. August Hohler stellt das dar, indem er aussagt: „Goethes Weimar hat Buchenwald nicht verhindert“. Gegen diese beiden Auffassungen möchte ich einwenden, dass die Grundgedanken des Humanismus deutlich im Gegensatz zu den Taten des Nationalsozialismus stehen. Rösch sagt dazu, dass „die Anerkennung des Mitmenschen in seinem Anderssein sowie die Achtung vor anderen Nationen und Kulturen“ sehr relevanter Bestanteil des Humanismus sei.  Dies ist auch in dem pazifistischen „Iphigenie auf Tauris“ zu finden.

Hegel legte bereits in einer seiner Vorlesungen dar, worauf Goethe Wert gelegt hat. Zum einen wird das Problem von Menschenhand und nicht wie bei Euripides durch eine Göttin gelöst. Das funktioniert nur durch das Vertrauen von Iphigenie in die Wahrheit. Innerhalb unseres Kurses hat ein Teil angemerkt, dass die Handlung zu perfekt ablaufen würde. Anders gesagt sei sie laut Karl Otto Conrady „ganz verteufelt human“. Meiner Ansicht nach ist der Ablauf des Dramas aber keineswegs perfekt. Um noch einmal die Schauspieler zu zitieren: „Jede Person im Stück ist gleichermaßen gefährdet inhuman zu handeln.“ Trotz unterschiedlicher Voraussetzungen können die Figuren durch Verzicht an dem humanistischen Ideal festhalten und den Konflikt lösen. Für Teile des Kurses war bereits der formale Aufbau des Dramas in fünf Akte und Blankvers unrealistisch. So würde diese Vorgabe ein unrealistisches Setting setzen. Die Figuren würden sich somit künstlich entwickeln. Meiner Auffassung nach unterstützt die Form jedoch das Ideal, dass durch Selbstbeschränkung eine humanere Gesellschaft entstehe. Die Selbstbeschränkung besteht darin, dass die Figuren nicht frei, sondern gebunden am Blankvers sprechen. Dadurch entsteht ein Sprachniveau, welches aus meiner Perspektive als Grundvoraussetzung zur Konfliktbewältigung dient. Wenn die Menschen - wie in der Einführung aufgezeigt - selbstbeschränkt und wahrhaftig leben würden, dies mithilfe von Bildung und einem Sprachniveau, würden wir meiner Ansicht nach viele soziale Probleme der deutschen Gesellschaft des 21. Jahrhunderts lösen.

Insgesamt stellt die Auseinandersetzung in diesem Absatz dar, dass die humanistischen Ideale „Iphigenies“ und der Weimarer Klassik, solange sie nicht missbraucht werden, für einen Teil der Gesellschaft zur Problemlösung beitragen kann. Daraus ergibt sich, dass Iphigenie ein Potenzial hat, die Gesellschaft zu verändern. Kerngedanken wie die Selbstbeschränkung als Mittel zur Problemlösung, finden wir momentan in den Beschränkungen durch die Corona-Pandemie wieder. Die wichtigen Persönlichkeiten der Weimarer Klassik würden uns wohl sagen: Bleibt zu Hause!

 

Alles in allem ergibt sich aus der vorherigen Auseinandersetzung mit den drei Teilthemen, dass „Iphigenie“ Antworten auf unsere gegenwärtigen Probleme liefert. Einschränkend wäre eine rein humanistische Bildung meiner Auffassung nach nicht ausreichend, um alle unsere gegenwärtigen Probleme zu lösen. Ist somit die Lektüre „Iphigenie auf Tauris“ von Johann Wolfgang von Goethe im Unterricht heute noch zeitgemäß? Meiner Ansicht nach ist „Iphigenie“ aufgrund ihrer dargestellten Ideale ein perfektes Exemplar eines der Grundpfeiler unseres Bildungssystems, somit ist es für mich noch immer zeitgemäß, „Iphigenie“ im Unterricht zu behandeln.

Text: Nick Hartmann, Q2, Fotos: Deutsches Theater, H.Schlaffer

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