Der nächste Planet war der von Kea
4. Juli 2023
Als der kleine Prinz gelandet war, sah er sich um. Der Planet war ziemlich groß und von vielen grünen Bäumen bewachsen. Es herrschte eine ruhige, freundliche Atmosphäre. Eine frische Brise wehte vom Meer, das irgendwo hinter dem Horizont lag. „Hier kann man sich wohlfühlen“, dachte der kleine Prinz.
Da sah er eine Frau, die an einem Tisch mit vielen, vielen Papieren saß. „Guten Tag!“, sagte der kleine Prinz. „Wo bin ich hier?“
„Guten Tag!“, sagte die Lehrerin. „Das ist der Planet von Kea!“
„Oh“, sagte der kleine Prinz. „Und wer ist Kea?“
„Ganz einfach“, erwiderte die Lehrerin. „Kea ist die beste Kollegin, die man sich vorstellen kann.“
„Das musst du mir erklären“, sagte der kleine Prinz.
„Es ist so“, begann die Lehrerin. „Wir Lehrkräfte haben viele verschiedene Aufgaben. So viele, dass man leicht den Überblick verlieren kann. Da ist es wichtig, wenn die Kolleginnen sich gegenseitig helfen. Und Kea ist immer für dich da! Sie unterstützt dich bei deinen Aufgaben, sie ist stets freundlich und bringt dich auf andere Gedanken. Und wenn du mal traurig bist, steht sie dir mit Trost und Hilfe zur Seite.“
„Das ist gut“, sagte der kleine Prinz. „Und wo finde ich Kea?“
„Geh weiter zum PR“, sagte die Lehrerin. Dort wirst du ihr bestimmt begegnen.“
Also lief der kleine Prinz weiter über den Planeten. Er kam zu einem kleinen, etwas abgelegenen Raum. Hier saß eine Person vor einem digitalen Notizbuch.
„Guten Tag!“, sagte der kleine Prinz.
„Guten Tag“, antwortete das PR-Mitglied.
„Bist du Kea?“, fragte der kleine Prinz.
„Leider nein“, erwiderte das PR-Mitglied. „Wenn ich Keas Geduld, Ruhe und Ausdauer hätte, dann wäre meine Arbeit viel einfacher.“
„Oh“, sagte der kleine Prinz. „Und was ist deine Arbeit?“
„Ausgleichen, vermitteln, schlichten. Zuhören, nachfragen, überzeugen. Weißt du, in einer so großen Schule gibt es unter all den Beteiligten viele große und kleine Konflikte. Unser PR versucht, diese Konflikte für alle Seiten möglichst gut zu lösen. Darin ist Kea übrigens eine Meisterin. Wenn du als Kollege ein Problem oder ein Anliegen hast – ihr kannst du dich guten Gewissens anvertrauen.“
„Das klingt gut“, dachte der kleine Prinz. „Dann könnte ich Kea auch meine geliebte Blume anvertrauen, wenn ich auf Reisen bin.“
„Und wo ist Kea?“, fragte er.
„Oh, sie muss hier irgendwo sein. Geh einfach weiter – du kannst sie gar nicht verfehlen.“
Und so marschierte der kleine Prinz noch weiter. Er kam zu einem Tisch, an dem ein Mann vor mehreren Stadtplänen und Reiseführern saß.
„Guten Tag!“, sagte der kleine Prinz.
„Guten Tag“, erwiderte der Romfahrer.
„Ich suche Kea. Ist sie hier bei dir?“
„Oh, Kea!“, sagte der Romfahrer, und seine Miene hellte sich auf. „Sie ist sozusagen die Schutzpatronin der Romfahrer. Und sie findet alles: Die sehenswerte Kirche, den fantastischen Aussichtspunkt, den einzigartigen Brunnen, das beste Restaurant, die unvergessliche Eisdiele... Komm mit uns nach Rom – du wirst begeistert sein!“
„Aber wo ist denn Kea?“, fragte der kleine Prinz. „Ich wandere hier schon eine ganze Weile herum und habe sie nicht getroffen.“
„Kea ist immer gern unterwegs“, antwortete der Romfahrer. „Vermutlich macht sie gerade eine Fahrt. Aber bald ist sie bestimmt wieder da. Geh doch eben über den Fluss und frag den Schulplaner!“ Und er schaute wieder auf seine Stadtpläne.
Also überquerte der kleine Prinz den Fluss und traf auf der anderen Seite den Schulplaner. Dieser saß vor einem großen Bildschirm, auf dem eine gewaltige Tabelle mit vielen Namen und Zahlen leuchtete.
„Guten Tag!“, sagte der kleine Prinz.
„Guten Tag“, sagte der Schulplaner. „Wie kann ich dir weiterhelfen?“
„Ich suche Kea“, antwortete der kleine Prinz.
„Moment“, sagte der Schulplaner und studierte seine Tabelle.
„Kea ist nicht mehr da. Schau in die Tabelle – die Zeile von Kea ist leer. Sie hat uns verlassen.“
„Verlassen?“ –
„Richtig. Kea ist nicht mehr bei uns. Die Tabelle beweist es.“
Nun war der kleine Prinz merklich verwirrt.
„Aber – die Lehrerin, das PR-Mitglied und der Romfahrer... wissen sie alle denn nicht, dass Kea fort ist?“
„Natürlich wissen sie das“, entgegnete der Schulplaner. „Sie wollen es nur nicht wahrhaben. Das tun die Erwachsenen oft, wenn sie etwas verloren haben, das ihnen sehr lieb war.“
Doch warum verlässt eine so besondere Person ihren eigenen Planeten?
„Vielleicht“, dachte der kleine Prinz, und er erinnerte sich an das, was ihm der Fuchs gesagt hatte, „vielleicht hat Kea zu wenig von all der Fürsorge und Anerkennung zurückbekommen, die sie den Menschen auf ihrem Planeten geschenkt hat.“
Doch über Fürsorge oder Anerkennung konnte die gewaltige Tabelle des Schulplaners keine Auskunft geben.
„Das ist so merkwürdig“, dachte der kleine Prinz. „Auf meiner langen Reise bin ich so vielen Leuten begegnet: dem herrschsüchtigen König, dem viel beschäftigten Geschäftsmann, dem unermüdlichen Laternenanzünder. Aber Kea ist die einzige, mit der ich gern befreundet gewesen wäre. Nun ist sie fort – und ich werde sie wohl niemals kennenlernen.“
Und auf seiner weiteren Reise war der kleine Prinz noch eine ganze Weile sehr traurig.
Text: Stechmann, Foto: Wolff, Illustration: devran_gazioğlu/Pixabay