Es waren einmal drei Märchen

15 Februar 2023

"Verstanden habe ich nichts", sagte eine Person aus dem Publikum nach der Aufführung. "Ich hab mich nicht getraut, das zu sagen, aber mir ging es auch so", antwortete eine zweite.

Das ist ja wunderbar, möchte man ihnen zurufen. Was der Prüfungskurs Darstellendes Spiel da erarbeitet hatte, indem sie die Märchen "Aschenputtel", "Hänsel und Gretel" sowie "Schneewittchen" mit den theatertheoretischen Konzepten von Bausch, Grotowski und Brook verbanden, war ein freies, kreatives Erkunden und Anverwandeln langbekannter und eigentlich sehr starrer (Denk-)Muster. Fragen, nicht antworten. Dekonstruieren statt bestätigen. Irritation inklusive.

 

Solche Muster sind zum Beispiel, dass das Aschenputtel ungerecht behandelt und dann entdeckt werden muss, dass Hänsel und Gretel in eine unschuldige Horrorgeschichte hineingeraten müssen und auch Schneewittchen immer wieder umgebracht und gerettet werden muss, wenn das Märchen erzählt wird.

Verständlichkeit ist nicht die höchste Priorität im Theater. Zu sehen, dass Darstellendes Spiel derart zum Aufbrechen und Verändern scheinbar unveränderlicher Zusammenhänge geeignet ist, stimmt optimistisch. Wenn Schüler:innen selbstständig deutend und gestaltend mit Pina Bausch (1940-2009) tanzen, mit Jerzy Grotowski (1933-1999) ohne Klimbim reduziert und nah am Publikum spielen (Danke, Ali!) oder eben mit Peter Brook (1925-2022) sinnlich minimalistisch, und dabei eine derart hohe Spielfreude- und -intensität erreichen, ist doch alles gewonnen. Denn solche Spieler:innen sind gerüstet, vor dem Bühnenbild der Zukunft notwendige Veränderungen herbeizuführen. Ihre Mittel: Tanzen, reduzieren auf das Wesentliche, auch wenn's hässlich ist und vor allem: Ran an die Menschen, die nicht nur zuschauen dürfen.

 

Aschenputtel

Die wortlose Bausch'sche Choreographisierung von Aschenputtel zeigt, wie Ermutigung durch Zuwendung geschenkt werden kann. Chantal und Hannah gelingt das in berührendem Zusammenspiel auch und gerade im Kontrast zu den Gemeinheiten der Stiefschwestern (herrlich ruppig-rücksichtslos: Julia und Rebecca). Frederik Otte, Lichtmeister auf Abruf, gelingt eine echte Verstärkung, indem er die Lichtfarbe über Minuten langsam vom kalten Blau zum warmen Gold wechseln lässt. Genial! Der Schwungtanz des gesamten Ensembles bildet den grandiosen Abschluss dieser ersten Darbietung. Aschenputtel als machtloser Spielball von Interessen, als fragiles Tau inmitten eines unmenschlichen Tauziehens.

 

Hänsel und Gretel

Das starke Erbe Grotowskis nutzt das zweite Teilemsemble für eine überwältigende Neufassung von Hänsel und Gretel, in denen die beiden unschuldigen Kinder in einen regelrechten Blutrausch geraten. Katharina und Lia machen aus dem Publikum heraus frappierende Erfahrungen am Hexenhaus (ganz im Sinne von Grotowskis armen Theater von Spieler:innen dargestellt). Die Befreiung aus der Schockstarre wird mit voll ausgereizter Gestik und Mimik und viel Mut zur Hässlichkeit ekstatisch dargeboten. Laura und Lina (spielerisch ebenso grenzüberschreitend) fallen den furiosen Killerkindern direkt und chancenlos zum Opfer. Eine Aktion der letzten Generation, die die Eltern so sicher nicht erwartet haben...

Schneewittchen

Den fulminanten Abschluss bildet eine Schneewittchenneufassung, in der die unschuldige Prinzessin einer Gruppe barbarischer Zwerge zum Opfer fällt, die die Verbindung zur Zivilisation längst verloren zu haben scheint. Kraftvoll-dynamisch (Vanesa), sinnlich-schnuppernd (Berkan), konsequent charakterstark (Hera) und einschüchternd kontrolliert (Viktoria) wird dem von Ronja stimmig ausgespielten ängstlich-hilflosen Schneewittchen in Tarantino-Manier zu Leibe gerückt.

Dem Ensemble und dem Spielleiter Marcel Schulz ist zu danken für einen ebenso engagierten wie spannenden Theaterabend.

Text, Fotos: Wolff

 

Aufführungen der letzten Jahre:

Schuljahr 2021/22

Minus-Mensch Information zur Eigenproduktion des Jahrgangs Q1 gibt es hier.

Achtsamkeit Informationen zur Eigenproduktion des Jahrgangs Q1 gibt es hier.

Herr der Fliegen Adaption des Romans von William Golding. Informationen zur Aufführung gibt es hier.

Der Sandmann Adaption der Novelle von E.T.A. Hoffmann. Informationen zur Aufführung gibt es hier.

Schuljahre 2019/20 und 2020/21

Zwei Jahre lang fanden Corona-bedingt keine Aufführungen von DS-Kursen statt.

Schuljahr 2018/19

Über meine Leiche von Stefan Hornbach. Informationen zur Aufführung gibt es hier.

Was(s)erleben, Eigenproduktion. Informationen zur Aufführung gibt es hier.

KINDESaltern, Eigenproduktion Informationen zur Aufführung gibt es hier.

 

Schuljahr 2017/18:

Horror - Wovor hast du Angst? Informationen zur Aufführung gibt es hier.

Emilia Galotti Informationen zur Aufführung gibt es hier.

Krehaartiv Informationen zur Aufführung gibt es hier.

Northlantis Innenstadtprojekt Informationen zur Aufführung gibt es hier.

 

Schuljahr 2016/17:

Andorra Informationen zur Aufführung gibt es hier.

Wovon wir träumen Informationen zur Aufführung gibt es hier.

Geschlossene Gesellschaft Informationen zur Aufführung gibt es hier.

Double Bind - Du bist anders, als du denkst Informationen zur Aufführung gibt es hier.

4.48 Psychose Informationen zur Aufführung gibt es hier.

Der Quietscher Informationen zur Aufführung gibt es hier.

 

Schuljahr 2015/16:

Homo Empathicus Informationen zur Aufführung gibt es hier.

Teuflisch Informationen zur Aufführung gibt es hier.

Eigenproduktion "Du auch?" Informationen zur Aufführung gibt es hier.

Biografisches Theater: Wie das Leben so spielt...

Adaption von Wolfgang Borcherts "Draußen vor der Tür" Informationen zur Aufführung gibt es hier.

 

Schuljahr 2014/15:

Veränderung Informationen zu der Aufführung gibt es hier.

Thiel Informationen zu der Aufführung gibt es hier.

Ist Art aud? Informationen zu der Aufführung gibt es hier.

Dr. Jekyll Informationen zu der Aufführung gibt es hier.

Göttliche Komödie Informationen zu der Aufführung gibt es hier.

 

Schuljahr 2013/14:

Dresscode, Nichts, Orpheus Information und Bilder zu den drei Aufführungen gibt es hier.

Balladen modern, Penthesilea Informationen zu den beiden Stücken gibt es hier.

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