Sandmann, lieber Sandmann
Wie leicht sich ein begeisterter und begabter Mensch in seinen Fantasien verlieren kann, das inszenierte einer der beiden DS-Kurse Q2 temporeich und abwechslungsreich. Dabei wechselten die Darsteller:innen durchgehend die Rollen. Eine Adaption von E.T.A. Hoffmanns bekannter Novelle, die also modern und dennoch werkgetreu inszeniert war. Und die Spielwut der 15 Darsteller:innen steckte an, ja sie fesselte das Publikum.
Die schleichende Radikalisierung
Dem Ensemble gelingt es, Nathanaels zunehmende Persönlichkeitsveränderung ganz deutlich herauszuarbeiten. Aus dem klugen, sprechfähigen Studenten, der seinem Freund Lothar (engagiert: Henrike Stöckemann) offen von seiner ersten Entwicklung berichtet, wird ein zunehmend introvertierter Fantast. Hendrik Heise spielt ihn noch als jemand, der sich selbst nicht mehr versteht, Hauke Scholz später abweisend und spröde.
Nico Lieseberg schließlich spielt dann im herausragenden Schlussakkord in radikalem Körperspiel den unkontrollierten Wahnsinn aus. Luke Hippel löst den Irrsinn mit seinem Tock-Tock-Tock-Gehstock als klappriger Coppelius aus.
Die Verständnislosigkeit der anderen
Man fragt sich, was kann diesen Menschen eigentlich noch retten?
Sicher nicht die Demütigung auf dem Hoffest. Sie wird durch eine starke Ensembleleistung in Form eines verhöhnenden griechischen Chores ausgedrückt. Sicher auch nicht die wenig einfühlsame Frontenbildung, die Clara und Lothar gegen Nathanael betreiben. Zwar gibt es erst nur Streit und man versöhnt sich pro forma, aber die Beziehungsangebote von Clara nehmen Nathanael nicht mit, zu seinem Entschuldigungsgedicht hat sie keinen Zugang. Emma Leonhardt und Linus Lüdecke lassen dementsprechend als Clara und Lothar Nathanael mit seiner überdrehten Entschuldigung ordentlich abblitzen. Besonders wiederkehrende magische Momente: Der seicht-ironische Ensemblegesang mit dem klassischen Sandmann-Song in veränderter Textgestalt.
Das bittere Trauma
Unter anderem Marlen Emektas starker Darstellung der Überwältigung ist es zu verdanken, dass die Traumatisierung Nathanaels in seiner Kindheit durch leichtfertige Ammenmärchen vom grausamen Sandmann (mal leichtfertig - mal tänzerisch: Floriane Hustedt, mit Timing: Lea Wolf)) und einem tatenlos zusehenden Vater in der Corvi-Mensa richtig greifbar wird.
Auf der anderen Seite agiert ein stets starker, mal finster gekrümmter (schlangenhaft: Niklas Shaha), mal forscher (kraftvoll: Aylin Akcam) Coppola als Gegenspieler. Und was für eine Idee, die übersteigerte Erinnerung der Misshandlung als Kind mit riesigen Augen samt Sehnerven (großartige Requisite!) zu verdeutlichen. Alica Zehender reißt in der zum Albtraum aufgeblähten Erinnerung Nathanael als Coppelius mit großer Geste die Augen aus. Imke Hahn fasst das Gesehene als Erzählerin mit kommentierenden Gesten zusammen.
Wie festgezaubert
Schließlich verliebt sich Nathanael folgerichtig in eine Puppe namens Olimpia. Sie bietet mit ihrem "Ach, ach, ach" und ihrem sich neigenden Kopf (roboterhaft anmutig: Amélie Lasota) die ideale Projektionsfläche für seine schwärmerischen Gefühle. Wie festgezaubert verfällt er ihr. Sehr intensiv gelingt bereits Olimpias erster Auftritt in starrer Beweglichkeit (vielfältig in verschiedenen Rollen agierend, als Olimpia schwebend auf dem Rollbrett: Emma Leonhardt). Und bald ist niemand mehr in der Lage, den sich hoffnungslos Verrannten zurückzuholen. Ein starkes, aber trügerisches Bild: Die Familie nimmt Nathanel zwischenzeitlich sogar explizit in ihre Mitte.
Der Kurs unter der Leitung von Deni Velinivski bot einen abwechslungsreichen und unterhaltsamen Abend. Sein Nathanael: Ein moderner Mensch, sozial isoliert und tragisch in alternativen Fakten gefangen.
Text, Fotos: Wolff